Under Dekonstruktion
siehe vorläufig Leib und Seele

2012-10-26 16:45
August 2008
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Innerlichkeit - This Mortal Coil: "DER MENSCH IN DER REVOLTE" (Juli 2008)
Innerlichkeit - This Mortal Coil
Freitag, 22. August 2008
"DER MENSCH IN DER REVOLTE" (Juli 2008)
DER MENSCH IN DER REVOLTE

Ein fragmentierter Vortrag von Jürgen Kramer
(Juli 2008)


Vorbemerkung
Allererst eine kurze Bemerkung an diejenigen, die behaupten, derartige Vorträge seien zu abgehoben. Obwohl mit beiden Füssen auf dem Boden stehend, ist es richtig, solche Vorträge als abgehoben zu begreifen. Auf den menschlichen Beinen erhebt sich und entsteht der aufrechte Gang des Menschen mit einem Leib von Seele und Herz und als Krönung (aber nicht als Krone) der Geist des Bewußtseins. Wenn man vom Seelisch-Geistigen spricht, spricht man von etwas Abgehobenem, der materialistischen Realität enthobenen. Und das ist gut so. Und wahrscheinlich gar nicht einmal sehr Beuysianisch.

Die Reihe von Zitaten im folgenden sollte nicht befremden, denn Denken ist immer auch Denken von schon Gedachtem. Wo aber wären Gedanken zu finden, wenn nicht im Geschriebenen (Hasse: Ficino, Einl.).



Revolte.

Noch im Geiste von Adornos „Negativer Dialektik“ formulierte Gernot Böhme 1994 in einem Aufsatz („Humanität und Widerstand“) die denkwürdige Erkenntnis:

„Das Neinsagen, die Ablehnung, der Widerstand, die Revolte, sagen wir allgemeiner, das refutative Verhalten (widerlegende), wird als dasjenige artikuliert, in dem sich der Mensch als Mensch erkennt.“ (es 1906, 251)

Hier wird in gut 68er - Art der Mensch als Neinsager definiert und die Revolte mit dem Neinsagen gleichgesetzt.

Falsch.



Eine Revolte sagt „Ja“!
Ein Ja zum Menschen und ein noch größeres Ja zum Leben, Zur Welt und zum Da-Sein überhaupt.
In der Revolte sagt der Mensch „Ja“ zu sich selbst.
Ein neinsagender Revoltierender ruft ja sein Nein den, sagen wir vorläufig, den Antikräften entgegen. Er selbst steht auf dem Boden der Positivität.
Jede Revolte ist positiv, ihr Nein wächst auf dem Boden der Bejahung. Jede Revolte sagt im Grunde „Ja“. Ihr Grund ist das Ja.
„Der Mensch in der Revolte“ ist der Mensch, der Ja zum Menschen sagt. Er sagt Ja zu sich selbst. Er revoltiert folgerichtig gegen die Kräfte, die ihm seine Existenz streitig machen wollen. So ist Leben eine Permanente Revolte.
Wer dieses ständige Aufbegehren gegen die Dämonen des Nein, wer die Positivität nicht leben kann, ob man dort von einem erfüllten Leben sprechen darf, bleibt dahingestellt.
Heute ist alle Welt voll der Dämonen des Nein. Mehr denn je ist daher heute, wie ich versuche hier zu beschreiben, der Mensch gefordert, der aufbegehrt.
Der Versuch unbehelligt in einer dämonischen, verrückten und entfremdeten Welt zu leben, kann ohne Weiteres nicht gut gehen.
Nicht, daß es nicht auch ein richtiges Leben im falschen geben könnte. Aber die tausendarmige Krake dämonischen Unheils richtet den stillhaltenden Menschen tausendfach zugrunde.
Zu zeigen, daß er lebt, der geschundene Mensch, heißt zu zeigen, daß er sich bejaht, daß er heil sein will.
Zu zeigen, daß er lebt, der gebeutelte Mensch, heißt heute zu zeigen, daß er seine Welt heil will. Die unheile Welt ist die gottverlassene, d. h. sinnverlassene Welt. In einer sinnlosen gottverlassenen Welt haben die Dämonen das Regime ergriffen.
Einer der Erzdämonen trägt den Namen „Nihilismus“.



Der Leitartikel der katholischen Zeitung „Christ in der Gegenwart“ vom Freitag, den 8. Juni 2008, beginnt mit der bemerkenswerten Aussage: „Das Leben ist aus den Fugen“. Und weiter heißt es dort: „ Jeder von uns hat teil an der Verrücktheit einer verrückten Welt“.

Winfried Weier, der 1980 eine der systematischsten Abhandlungen über den Nihilismus vorgelegt hat, versucht in seinem Vorwort die Ver-rückung in der Gegenwart mit einigen phänomenologischen Worten als Fremdartigkeit zu thematisieren. Er schreibt in seinem Vorwort: „Viele fragen sich heute, was es eigentlich sei, das die Welt, in der sie leben, so grundlegend verändert hat, so fremdartig werden ließ. (...) Sie beobachten ein immer mehr um sich greifendes Ersterben der Wesensfrage, eine Nivellierung aller Gehalte, eine Verkürzung und Verflachung aller Perspektiven auf die Außenansicht des Wirklichen, den verrechenbaren Zweck wie eine daraus resultierende Öde und Monotonie des Gehaltlosen, die besonders bei der nach tragfähigen Lebensinhalten verlangenden Jugend verhängnisvolle Wirkungen zeigt. Irgendwo treffen sie auf das Wort „Nihilismus“ und ahnen wohl, daß der Wortsinn einen Hinweis auf das Gesuchte enthalten könnte. Gehen sie diesem jedoch nach, so wird die Fragenot nur noch größer. Sie sehen sich einem schier Unergründlichem gegenüber. Die Rätselhaftigkeit dieses Sonderbaren steigert sich ins Ungeheuerliche angesichts des aus ihm hervorgehenden Auftretens von Terrorismus und Anarchismus, für das es signifikant ist, daß alle Appelle an ein Wertbewußtsein grundsätzlich ihre Wirkung verfehlen, keinen Widerhall mehr finden können, sondern auf ein Bodenloses, ein totales Nichts treffen. Ist es Schicksal oder Verhängnis, worauf jenes Wort weist, Krankheit oder Dekadenz einer ganzen Kultur, eines Zeitalters, Neurose oder Psychose, Ermattung religiöser Glaubenskraft, Ermüdung des Lebenswillens, Todestrieb, Zerstörungswahn, Zerfall einer Gesellschaft?“ Soweit der Akademiker Winfried Weier 1980.







„The Waste Land“ (- Das wüste Land, das öde Land-), dieses
gigantische Poem mit dem alles sagenden Titel von T. S. Eliot,
an dessen Entstehung maßgeblich der Käfigpoet Ezra Pound
„mitschuldig“ ist, habe - nach einem Diktum William Carlos Williams-
nach seinem Erscheinen 1922 „die alte Welt ausradiert wie der Abwurf einer Atombombe.“

Unter dem tut man es ja nicht mehr in der Moderne. Die Avantgarde unserer Großväter war von Anfang an geschwängert durch die Geste des
T a b u l a r a s a .

“…die alte Welt ausradiert wie der Abwurf einer Atombombe”.
Dieses dichterische Bild allein würde schon ausreichen, einen Begriff des Nihilismus zu geben, der hier zur Sprache kommen soll.

Man meint diese Signatur des Zeitalters, genannt „Nihilismus“, hätten die Russen im 19.Jahrhundert - Turgenjew und Dostojewski - als erste geprägt. Das ist falsch. Der Begriff „Nihilismus“ wurde als ein Scheltwort für den Idealismus erstmalig von Friedrich Heinrich Jacobi in einem Schreiben vom März 1799 an Fichte verwendet. So wurde das Nihilistische bald Phänomen der deutschen Romantik und Charakterwort der Zeitkritik.

In Ludwig Tiecks Brief-Roman „William Lovell“ herrscht Begeisterung für nihilistischen Untergang. Lovell:
„Fliege mit mir, Ikarus, durch die Wolken, brüderlich wollen wir in die Zerstörung jauchzen“.

Die romantische Generation ist vom Geist des Nichts erschüttert und entsetzt. Das Entsetzen ist eine verborgene Seite der Romantik.
Die Idylle wächst auf einem bodenlosen Abgrund heran.

Viele Denker und Dichter haben in den vergangenen zweihundert Jahren explizit das abgründige Entsetzen im Hineingehaltensein in den Nihilismus als Befindlichkeit des modernen Zeitalters mehr oder weniger kühl zur Sprache gebracht:

Friedrich Nietzsche - Martin Heidegger.

Die Reputation (Ansehen) dieser Denker ist denkbar schlecht aus dem Grunde, weil sie gerade ihre Finger in die Wunden der geistigen Nihilisten der Moderne legen. Kein Wunder also.

Das Nachdenken über den Nihilismus erreicht seinen ersten Höhepunkt in Nietzsches Aphorismen der achtziger Jahre des 19. Jhs., die verstümmelt später unter dem Titel „Der Wille zur Macht“ erschienen sind.

„Was ich erzähle“, schreibt Friedrich Nietzsche, „ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe. Was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Jünger und Heidegger, erschüttert durch die planetarischen Verwüstungen der modernen technikfundierten Kriege - für Heidegger verkommt die Erde zum „Irrstern“ der Seinsverlassenheit - beschäftigen sich seit den zwanziger Jahren mit einer Nihilismusdiagnose als umfassende Kultur- und Gesellschaftstheorie.

Die Stationen dieser Reflexionen sind nicht nur Heideggers „Sein und Zeit“ von 1927, „Was ist Metaphysik“ 1929 und Jüngers „Der Arbeiter“ 1932. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Erfahrungen seiner grauenhaften Entmenschlichungen schreibt Heidegger sichtbar erschüttert und gegen Sartre gerichtet den legendären „Brief über den „Humanismus“ „(1946), wo die „Heimatlosigkeit“ als Entwurzelung des modernen Menschen zur eindrucksvollen Sprache kommt.

Nicht von ungefähr fällt eine wesentliche Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus in die Zeit des Nationalsozialismus. Man hat Martin Heidegger (1889-1976) penetrant den Vorwurf gemacht, er habe sich zu seinem Verhältnis zum „Dritten Reich“ nie ausreichend geäußert, nie dem Regime wirklich abgeschworen. Wäre es nicht so traurig, wie der deutsche Intellektuelle mit Denkern von Rang umgeht, wäre diese Kritik nur allzu lächerlich. Mitten hinein in die antisemitischen Pogrome und der Entfesselung des Zweiten
Weltkrieges durch das Terrorregime der Nazis hält Heidegger seine Nietzsche Vorlesungen (1936 bis 1940). Obwohl es hier nicht zur Debatte steht, sei der Hinweis gestattet, dass diese Nietzsche Vorlesungen und die folgenden Abhandlungen ab 1940 dermassen fundamentales antifaschistisches Denken verkörpern, das man der Bekenntnis-Antifa nur wünschen möchte. Diese Texte sind erst im Jahre 1961 veröffentlicht worden unter dem Titel „Nietzsche“, Band 1 und 2 ( aus Band 2 wiederum sind zwei Abhandlungen unter dem Titel „Der europäische Nihilismus“ 1967 in Buchform erschienen). Die angedeutete Geschichte von Heideggers Arbeiten von den 30er Jahren bis zur Zeit der 68er Rebellion belegt, dass eine wirkliche geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit den Fundamenten des deutschen Faschismus nur schwer in Gang gekommen war. Möglicherweise angestossen durch jene Vorlesungen und im fassungslosen Entsetzen über die Greuel des Naziregimes begann 1946 die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus. Zum 60. Geburtstag Heideggers 1949 widmete Ernst Jünger Heidegger die Schrift „Über die Linie“, eine Schrift in der Jünger den Nihilismus als „Normalzustand“ der europäischen Gesellschaft diagnostiziert.
Es heißt darin, der Mensch sorge sich um seine „Selbsterhaltung“ in einer „Welt, in der der Nihilismus nicht nur herrscht, sondern, was schlimmer, zum Normalzustand geworden ist“. Die Antwort von Heidegger ist die Abhandlung „Zur Seinsfrage“ (1955). Das alles soll hier nicht weiter verfolgt werden, so spannend es sein mag, sondern statt dessen sei ein längeres Zitat aus der Heidegger-Antwort an Ernst Jünger „Zur Seinsfrage“ vortragen:

„Zwar betonen Sie (an Jünger gerichtet), der Nihilismus sei nicht der Krankheit, sowenig wie dem Chaos und dem Bösen gleichzusetzen. Der Nihilismus selbst ist sowenig wie der Krebserreger etwas Krankhaftes. Bezüglich des Wesens des Nihilismus gibt es keine Aussicht und keinen sinnvollen Anspruch auf Heilung. Gleichwohl bleibt die Haltung Ihrer Schrift eine ärztliche, was schon die Gliederung in Prognose, Diagnose, Therapie andeutet. Der junge Nietzsche nennt den Philosophen einmal den „Arzt der Kultur“. Aber jetzt handelt es sich nicht mehr nur um die Kultur. Sie sagen mit Recht: „Das Ganze steht auf dem Spiel“. „Es geht um den Planeten überhaupt“. Das Heilen kann sich nur auf die bösartigen Folgen und bedrohlichen Begleiterscheinungen dieses planetarischen Vorganges beziehen. Um so dringlicher benötigen wir die Kenntnis und Erkenntnis des Erregers, d. h. des Wesens des Nihilismus. Um so nötiger wird das Denken, gesetzt, daß sich eine zureichende Erfahrung des Wesens nur im entsprechenden Denken vorbereitet. Doch im gleichen Maße wie die Möglichkeiten für eine unmittelbar wirksame Heilung schwinden, hat sich auch schon das Vermögen des Denkens verringert.
Das Wesen des Nihilismus ist weder heilbar noch unheilbar. Es ist das Heil-lose, als dieses jedoch eine einzigartige Verweisung ins Heile. Soll sich das Denken dem Bereich des Wesens des Nihilismus nähern, dann wird es notwendig vorläufiger und dadurch anders.“

Der zweite Weltkrieg, die Entwicklung der Atomwaffen, die Konfrontationen des „Kalten Krieges“ haben in den 50er und 60er Jahren ihre Spuren in der Nihilismusdiskussion dieser Zeit hinterlassen.
Der Religionsphilosoph und Guardini-Schüler Fritz Leist (1913 – 1974) veröffentlichte 1961 sein Buch: „Existenz im Nichts, Versuch einer Analyse des Nihilismus“. Darin spricht er von einer „Weltstunde des Schreckens:
„Fragen nach dem Wesen des Nihilismus kann ich nur“, schreibt Leist, „wenn ich beunruhigt bin. Wir betrachteten die Weltstunde des Schreckens, sie vermag die Beunruhigung zu wecken und das Fragen zu lehren: was ist der Mensch, das er so sein kann? Was geht vor auf unserer Erde, dass sie zur Stätte eines solchen Grauens werden konnte?“ (40).

Dichter-Intermezzo


Während Nietzsche in Nizza über die Kunst als große Stimulanz des Lebens und damit Gegenbewegung zum Nihilismus nachdachte, erblickte in einer anderen Hafenstadt, Lissabon, Fernando Pessoa das Licht der Welt (am13.Juni 1888). Pessoa, der in seinen Dichtungen je nach Heteronym überzeugend den Stil austauschte und so potentiell das Dichter-Ich auflöste in unterschiedliche Handschriften - was mich persönlich angesichts meiner malerischen Arbeit immer mit Genugtuung erfüllte, dieser Dichter „arbeitete für die Truhe“. Nur ein Bruchteil seines Schaffens ist zu Lebzeiten publiziert worden. Erst 47 Jahre nach seinem Tod im Jahre 1935 erschien sein Hauptwerk „Das Buch der Unruhe“. Schon im ersten Artikel der ersten Seiten des „Buchs der Unruhe“ („Unruhe“? Wer assoziiert da nicht „Revolte“) gibt Pessoa eine genaue Zustandsbeschreibung seiner Generation, die deren Geist eindeutig in die Klammer nihilistischer Ideen stellt: die Gottesfrage, die Frage nach der Wahrheit und ihre negative Antwort, die Leugnung der sogenannten Realität: „das Leben ein Traum“. Diese ausführlichen diagnostischen Abschnitte möchte ich hier übergehen, so vielsagend sie im einzelnen sind. Stattdessen wähle ich ein poetisches Bild aus der Mitte des Buches (S.89):

„Regen

Schließlich zieht über der Dunkelheit der naßglänzenden Dächer das kühle Licht des lauen Morgens wie eine Plage der Apokalypse auf. Es ist abermals die unermeßliche Nacht der zunehmenden Helligkeit. Es ist abermals das Entsetzen von eh und je - der Tag, das Leben, die trügerische Nützlichkeit, die heillose Tätigkeit. Es ist abermals meine leibliche, sichtbare, in der Gesellschaft lebende Person, übertragbar durch Worte, die nichts besagen, benutzbar dank den Gesten der anderen Menschen und ihrem fremden Bewußtsein. Ich bin es abermals, so wie ich nicht bin.“

Zu einem deutschen Dichter.
„Haben wir noch die Kraft, so fragt sich der Verfasser, dem wissenschaftlich determinierenden Weltbild gegenüber ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten, haben wir noch die Kraft, nicht aus ökonomischen Chiliasmen(Erwartung des 1000jährigen Reiches ) und politischen Mythologemen, sondern aus der Macht des alten abendländischen Denkens heraus, die materialistisch-mechanisch Formwelt zu durchstoßen und aus einer sich selbst setzenden Idealität und in einem sich selbst zügelnden Maß die Bilder tieferer Welten zu entwerfen? (3, 713)“ Wer hier nach einem Maß jenseits der Maßlosigkeit fragt, ist kein geringerer als Gottfried Benn.
Kaum ein anderer deutscher Dichter der letzten hundert Jahre hat sich wohl so sehr - und zwar auch theoretisch - mit dem nihilistischen Verhängnis beschäftigt.

Mit 27 Jahren spricht Benn 1913 in dem Gedicht „Hier ist kein Trost“ von einer „Erde aus Nihilismus und Musik“. In den folgenden Jahrzehnten sind Essays und Vorträge Benns betitelt:
„Nach dem Nihilismus“ (1932); „Pessimismus“ (1949); „Nihilistisch oder positiv“ (1953), usw.




Noch einmal Martin Heidegger

Martin Heidegger ist der Denker des Seins. Das unterscheidet ihn von den Existentialisten wie Sartre und Camus, die das Da-sein primär existential ins Spiel bringen. Das Sein ist nicht zu denken ohne das Gegenüber - wirklich gegenüber? - das Nichtsein oder Nichts. Damit wird Heidegger als Seinsphilosoph auch der vorrangige Denker des Nichts und des Nihilismus .

Die Vollendung der Neuzeit, in dessen Gegenwart der Mensch in der Revolte gestellt ist und die nach Heidegger „nur abendländisch sein kann, d. h. nur mit dem Willen und Wissen Europas geschaffen werden kann“ (67,146) , vollzieht sich in der sogenannten „Seinsverlassenheit“, gleichsam als von der Welt und Gott verlassen.



„Die Verwüstung als die Sicherung der Dauerfähigkeit einer vollständigen Entwurzelung von allem, so zwar, daß alles Bisherige doch erhalten bleibt; daß man sich zu Zwecken der Ver-wüstung um die „Kultur-politik“ bemüht“ schreibt Heidegger 1938/ 1939 (67,146).

Die Entwurzelung des Menschen, durch die er in die Verwüstung gestellt ist, ist dramatisch angewachsen zu kosmischen Ausmaßen gewissermassen, seitdem Nietzsche das Wort prägte „Gott ist todt“. Da wird der entwurzelte Mensch in seiner „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukacs) selbst zu einer Wüste:

„Die Wüste wächst:
weh dem, der Wüsten birgt!
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.“

Und:
„Vergiß nicht Mensch, den Wollust ausgeloht:
du - bist der Stein, die Wüste,
bist der Tod...“ (Nietzsche 1888)

Was geschieht denn, wenn der Mensch verwüstet? Fehlende metaphysische Dimensionen, auf das bloß Materielle, bloß Technische reduziert, erzeugt andererseits beim noch Lebendigen einen ungeheuren Durst. Aus diesem Durstgefühl verwüsteter Menschen speist sich ein Teil der Revolte. Daß das Wässerchen Kunst hier ins Spiel kommt, davon später mehr.

Das Bild der Wüste, in die sich der moderne Mensch gestellt sieht, ein ambivalentes Bild auch für diesen Ort, ist ein fruchtbares Bild. Einerseits transportiert es den Todeszustand der menschlichen Welt im allgemeinen, es ist ein maßloses Environment, andererseits:
Paradoxerweise, die Wüste lebt und ist belebt, nicht allein mit den Mitteln der jeweiligen Anpassung, sondern auch im Widerstand gegen das dämonisch Maßlose in der Ausbildung neuer Organe, die übrigens auch für Beuys das Menschenbild der Zukunft charakterisiert, und neuer Schutzmechanismen. Die fruchtbaren Oasen (geistiger) Wüstenzustände, sind das nicht die Residuen des Paradiesgarten, d. h. des Urwissens der Menschheit? Das Sinnbild der Wüste ist weder positiv noch negativ, wie auch der Nihilismus und die Revolte ambivalent sind. Vorschnelle Wertungen im Zeitalter des Wertschwundes sind selbst fragwürdig. Zu klären ist, warum, wie der erwähnte Winfried Weiher schreibt, „die Überwindung des Nihilismus (...) gerade aus seiner Vertiefung hervorgehen (kann)“ (15).

Die Welt der Romantiker, derjenigen also, die sich als erste mit dem Phänomen des Nihilismus abgeben mussten, ist voller Melancholie. Einer Melancholie, die der Romantiker aus der Empfindsamkeit für die Vergänglichkeit und Nichtigkeit der Dinge der Welt bezieht. Wie steht es um diese Nichtigkeit der Dinge überhaupt? Seit sich das Abendland vom griechischen Denken, dem Denken eines Parmenides z. B. und seinem Seinsdenken vor allem, entfernt, gerät es zunehmend in den Sog des Nihilismus. Für Emanuele Severino (1972) ist "die Geschichte des Abendlandes (...) die Geschichte des Nihilismus, und zwar in einem Sinne, der von dem, den Nietzsche und Heidegger geltend gemacht haben, grundverschieden ist" (29). Ob christliches, ob marxistisches, ob technisches Denken: die Dinge der Welt werden grundsätzlich als machbar - und damit auch als zerstörbar gesehen. Das heißt: die Dinge werden als Nichts gesehen, so heißt es im Verlagstext zu Severinos legendärem Buch "Vom Wesen des Nihilismus" (dt. 1983). Das Machbare , die Machbarkeit der Dinge und der Welt, sind grundsätzlich Verfassung der Moderne. Jede Heilserwartung wird immanent, der Wandel vollzog sich im 19. Jahrhundert. Dort „implodierte“ (Willem van Reijen) das Sakrale, das Heil war invers geworden. Wird die Welt grundsätzlich und grenzenlos als machbar angesehen, ist auch grundsätzlich ihre Nichtigkeit gesetzt. Heute stehen wir vor einem Umdenken: ob Gentechnik oder atomare Ausbeutung, die Welt muß in ihren Grenzen gedacht werden. Nicht mehr alles ist machbar.




Dieser Vortrag erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, noch ist er besonders künstlerisch. Dieser Vortrag ist ein Zwischengespenst. Das bedeutet: Er ist ein Vortrag, ein Referat des Dazwischen, des Übergangs; die Revolte ist ständig ein Übergang, ein revolter (frz.), ein Umwälzen und ein re -volvere (lat.), ein Zurückdrehen.

Hier wird versucht, die Revolte in der Konfrontation von Zeitgeist und Nihilismus anzuzünden. Wer kann noch zur Tagesordnung überwechseln, wenn alles bloß noch nichts ist, Nichtswürdiges, nichts Wertvolles, nichts Wichtiges. Langeweile. Der Mensch ist von sich gelangweilt, der Mensch ist langweilig, Leben ist langweilig. Wir haben genug von allem.
„Der Name „Nihilismus“ sagt, falls er ein nennendes Wort werden und nicht ein Schlagwort bleiben soll, daß in dem, was er nennt, das nihil (nichts) wesentlich ist. Nihilismus bedeutet: mit dem Seienden ist es nichts; und zwar keineswegs nur mit diesem oder jenem Seienden, sondern nichts ist es mit dem Seienden als solchem im Ganzen.“ (67, 177) Als Heidegger das im Jahre meiner Geburt 1948 aufschrieb, war mein Schicksal besiegelt und ich spürte das in einer zwar behüteten, aber auch stellenweise dramatischen Kindheit und Jugend. Mit Samuel Becketts Wüstenstücke „Warten auf Godot“ und „Endspiel“ aus den 50er Jahren wurde ich konfrontiert durch Aufzeichnungen in den Massenmedien. Ja, „nichts ist es mit dem Seienden als solchem im Ganzen“. Warten auf Godot (Göttchen) ist vergeblich. Das Ganze macht keinen Sinn mehr, die menschliche Existenz ist absurd. Es war erschütternd. Es erschütterte der Inhalt der Theaterkunst, es erschütterte die Form der Kunst. Nihilismus ganz und gar, aber ein Nihilismus, der sich selbst übersteigt und Übersteigung hat den anderen Namen „Transzendenz“. Der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (G. Lukacs), wie sie durch Wladimir und Estragon, Pozzo und Lucky auf die Bretter gebracht wurde, die die Welt bedeuten, wurde der Same entgegengesetzt für das damals noch nicht prognostizierbare Pflänzchen der „transzendentalen Revolte“.

In DIE ZEIT erschien zum 100.Geburtstag Samuel Becketts 2004 von Thomas Assheuer der Artikel „Alles ist nichts“. Darin meint Assheuer voller Zynismus feststellen zu müssen, dass Becketts „Horrorvision“ heute niemanden mehr schreckt. Er schreibt:
„Becketts Klage verstünde heute niemand mehr, der Autor wäre arbeitslos. Tatsächlich haben sich die Vorzeichen verkehrt: Was den Zeitgenossen einen existentiellen Schrecken einjagt, ist nicht mehr Becketts metaphysische Obdachlosigkeit, der ausbleibende Godot oder der abwesende Sinn, es ist das Nichtfunktionieren der Systeme, die panische Vorstellung, das Gewebe unserer materiellen Abhängigkeiten könne zerreissen und das empfindliche Funktionssystem der Risikogesellschaft zusammenbrechen. (...)In dieser Welt fehlt nichts, in ihr gibt es nichts zu vermissen, erst recht kein Stück von Beckett. Hauptsache, die Züge fahren pünktlich. Nur die Binnennachfrage könnte besser sein.“
Dieser weitverbreitete, bei Harald Schmidt in die Schule gegangene, deutsche intellektuelle Zynismus, belegt, wo sich der deutsche Gegenwartsgeist zunehmend wohliger aufhält. Heidegger sprach einst sinnerfüllter noch von der „ Not der Notlosigkeit“.

Aber es gibt unter uns auch andere Stimmen.

1985, als die Vorhut in der Kunst um Postmoderne und Transavantguardia stritt, veröffentlichten Bernd Matheus und Axel Matthes die Sammlung „Ich gestatte mir die Revolte“. Es war ein Kompendium, das wie eine Ohrfeige im müden Gesicht der verbeamteten Revoluzzer landete.

Im Nachwort schreibt denn auch Axel Matthes:
„Revolte ist das Zeichen des Außer aller Ordnung. Die Revolte hat viele Gesichter. Die Revolte ist eines, ihr Ausdruck ein anderes: Es gibt die Revolte des Platten oder Demagogen, um die Verkrümmung des Menschen zu steigern, den Genuß in der Unterwerfung, die Untertänigkeit, die Herdengüte. Und es gibt die Revolte des widerspenstigen Einzelnen. Der Duckmäuser und der Furchtlose setzen den Begriff „Revolte“ grundverschieden an. Daß die Kirche alle „großen Männer“ in die Hölle schickte, ist eine Revolte, die schon Nietzsche mißfiel. Ich meine also: Revolte gegen jeden etablierten Discours der Revolte!“

Und weiter:

„Wem jede symbolische Witterung fehlt, wer ohne Zagen auf sein gemütliches Pragma fixiert ist, der Banause oder Pharisäer (und mache er auch in Antifaschismus), der Biedermann und Salbungsvolle gewahrt in der Revolte nur ein Entwischen, Frivolität im Sozialen („wo bleibt aber die gesellschaftliche Relevanz?“), er sieht nicht die Verlustkraft und Fülle, bloß ungewöhnliche Anmaßlichkeit,,, Überspanntheit und Drückebergerei. Der selbstgerechte Klotz und Kopfeinzieher fragt sich nie, ob Zerrissenheit ein Ausdruck der Fülle sein könnte, zu der der fade Mensch kaum fähig ist. Er sieht den Revoltierenden auf der Verliererseite. Der Ehrbare pocht auf sein Recht. Ein immer nur angemaßtes Recht. Er verwechselt den Revoltierenden mit dem Neurotiker, der ebenfalls sich immer im Recht wähnt, und dessen Kultur der Isolation ein ziemlich kalter Nestwärme -Ersatz ist.“ (268/270)


„L’homme revolté“ - „Der Mensch in der Revolte“ ist die titelgebende Schrift Albert Camus von 1951. Davon später ausführlicher, denn an dieser Stelle mit der Schrift „Ich gestatte mir die Revolte“ von 1985 sind wir ja beim aktuellsten Zeitgeistgehabe.

Die beiden Fragen „Was ist Kunst“ (im Nihilismus) und „Was ist der Mensch“ (der Revolte) bedingen einander.

Wie stellen sich diese Fragen zur Zeit? Werden sie überhaupt noch sowohl beim Künstler, als auch beim Publikum, gestellt? Spielen sie für den Geist der Zeit überhaupt eine Rolle? Fragt der Zeitgeist überhaupt noch nach dem Menschen? Fragt der Zeitgeist überhaupt noch nach dem Bild des Menschen - wie immer auch sein Inhalt angesetzt und in welche Form auch immer es gebracht wurde?

Was ist das Gesicht des Zeitgeistes, wenn unter ihm mehr zu verstehen ist, als bloße Tagesaktualität?

Fußmann

Klaus Fußmann, Jahrgang 1938, ist ein Maler und Nachdenkender, der mit einiger Kompetenz Schriften zur Malerei verfaßt hat. 1985 sagt er über sein Anliegen:
„Mein Anliegen war es, die Moderne als eine Epoche der Kunst darzustellen, die jetzt vorbei ist“ (DvM 133).
Und weiter: „Die moderne Kunst hat . . . die Religion, die Mythen und auch das Gefühl aus ihrer Thematik verbannt und sich ganz auf die Form verlassen“ (DvM11).

Die Genese des Formalismus in der Kunst der modernen Avantgarden ist Ausdruck der Krisensituation der Zeit und Ausdruck eines ästhetischen Nihilismus.

Im Betrieb der Kunst heute geht diese mehr und mehr verloren, wird diese mehr und mehr ausgelöscht, verschwindet und löst sich auf in zweifelhaften Veranstaltungen, wie Events, provokanten Inszenierungen und Spektakel. Kunst ist nicht mehr Kunst, je mehr von solcher geschwätzt wird. Was mit Duchamps antikünstlerischen Schnurrbart der Mona Lisa und seinen Ready- mades als eine Kunst der Behauptung von Kunst begann, endete in der Vollendung des ästhetischen Nihilismus weißer und leerer Flächen, im besinnungslosen Farb- und Formgeschiebe rationaler Strukturen oder mißverstandenem „Jeder Mensch ist ein Künstler“-Habitus demokratischer Jekami-Veranstaltungen. Kunst ist nicht mehr Kunst, wo Kunst draufsteht, ist keine Kunst drin. Mit diesen ruinösen Mogelpackungen umgeben sich jetzt Animateure, Scharlatane und Ereignisorganisationsbeamte.

„Es gibt zur Zeit keine Theorie über Kunst, die allgemeine Gültigkeit hätte. Verbindliche Vorstellungen darüber, was Kunst sei, findet man nicht“ (DvM 1985, 89) beklagt Fußmann 1985.

Orientierungslosigkeit allüberall, das charakterisiert den dummen Zeitgeist: Keine Orientierung, kein Maß. Sondern Maßlosigkeit und wertlos gewordenes Leben. Krise, Wüste, Seins- und Gottverlassenheit, Desorientierung, Utopieverlust, kurz des „Endspiel“ des Nihilismus. Und Fußmann diagnostiziert 2005 die von Georg Lukacs sogenannte „transzendente Obdachlosigkeit“ mit den Worten:
„Vor allem Gott ist ihm (dem Westeuropäer) mit den Bildern (der Kunst) abhanden gekommen, von ihm hat er keine Vorstellung mehr, allenfalls noch ein vages Gefühl. Die westlichen Menschen leben ohne Gott und seit kurzem auch ohne Utopien“.

„Diese Kunst ist in der Literatur vielfach beim Schweigen angelangt, in der Musik beim Lärm oder dem Verstummen, in der Bildenden Kunst bei der leeren Fläche, der unveränderten Natur. Sie selbst weist auf das Ende nicht mehr hin, sondern hat es erreicht“, schreibt Wolfgang Kraus in seinem Buch „Nihilismus heute oder Die Geduld der Weltgeschichte (1983,104).
Und der Autor weiter: „Eine unendliche Müdigkeit ist zu spüren, eine Resignation, die dadurch gesteigert wird, daß alles, was an Protesten oder Provokationen vorstellbar ist, widerstandslos aufgenommen wird. Ja nicht nur das: sie werden oft mit Jubel begrüßt, mitunter sogar zur kurzfristigen Mode hochstilisiert und verlieren jede ernsthafte Wirkung“ (ebd. 105).

Der Nihilismus ist ein Dämon, den man, insofern er sich noch passiv gibt, an Leib und Leben höchst schmerzvoll erfährt. Der Verlust von Sinn und Wert stürzt in ein seelisches Chaos. Die nihilistische Orientierungslosigkeit von Zeitgenossen macht anfällig für abstruse Machtfantasien und heuchlerisch-esoterische Sektengelüste. Wo nichts mehr Bestand hat, ist der Mensch abgründig und bodenlos geworden. In seiner verzweifelten Zerrissenheit findet er keinen Halt, sondern verdirbt im nihilistisch-dionysischen Rausch. Der gottverlassene Mensch hilflos und hoffnungslos wird aus der Absurdität seines Daseins weder durch Ironie, noch durch Witz, noch durch Kalauer gerettet, wie das absurde Theater aufgezeigt hat.

Was ist Kunst? Nichts. Was ist der Mensch? Nichts. Diese Weisheit des Zeitgeistes zeigt wo dieser angesiedelt ist: am Nullpunkt!



Camus, der 1937 aus der Kommunistischen Partei Algeriens austrat, veröffentlichte seinen Essay „Der Mythos des Sisyphos“ fünf Jahre später. Geprägt vom Gefühl des Nichtigen und dem daraus folgenden Problem des Selbstmordes ist der Text eine umfassende Betrachtung über das Absurde. Es ist zugleich eine Bejahung der menschlichen absurden Existenz ohne Gott und diese Bejahung kommt in der Erkenntnis zum Ausdruck: „Letztlich müssen wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Sartre, der andere Denker des französischen Existentialismus hat 1944 (in „Huis-clos“) ein Leitmotiv seines Menschenbildes formuliert:
„Die Hölle, das sind die anderen“ und also das Mit-sein, die Liebe, die Caritas, den Eros als in einem Verhältnis des Ekels zum Scheitern verurteilt.

Bei Camus ist der Mensch sich und anderen, die Welt als Ganzes so fremd geworden, daß erwähntes Absurdes quasi die Leerstelle Gottes ausfüllt. Hier gibt es keine „Liebe zum Leben ohne Verzweifelung am Leben“ wie Camus 1936 nicht ohne Pathos formulierte.

Einzig die „metaphysische Revolte“ verbleibt dem Menschen, jene „Bewegung, mit der ein Mensch sich gegen seine Lebensbedingung und die ganze Schöpfung auflehnt. Sie ist metaphysisch, weil sie die Ziele des Menschen und der Schöpfung bestreitet. Der Sklave protestiert gegen das Leben, das ihm innerhalb seines Standes bereitet ist, der metaphysisch Revoltierende gegen das Leben, das ihm als Mensch bereitet ist.“ (MR 35)

Camus „L’homme révolté“ von 1951 endet nach dreihundert Seiten allerdings mit einem anderen Unterton :
„Die Revolte beweist dadurch, daß sie die Bewegung des Lebens selbst ist und daß man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben selbst zu verzichten. Ihr Aufschrei läßt jedesmal ein Wesen sich erheben. Sie ist somit Liebe und Fruchtbarkeit, oder sie ist nichts.“ ( MR 343)
Und ein Absatz vor dieser Stelle, sagt Camus ausdrücklich, „daß die Revolte nicht ohne eine sonderbare Liebe auskommt“ (MR 342), denn:
„Über den Nihilismus hinaus bereiten wir alle in den Ruinen eine Renaissance vor. Doch wenige wissen es.“ (MR 343)
Hier hat Camus eine Wendung vollzogen und erweist sich in seinem denkerischen Ansatz als antinihilistischer Denker, der auch die Ausgangsfigur der absurden Existenz hinter sich läßt. Ich wiederhole diese Schlüsselstelle:

„...daß die Revolte nicht ohne eine sonderbare Liebe auskommt“, denn „über den Nihilismus hinaus bereiten wir alle in den Ruinen eine Renaissance vor. Doch wenige wissen es.“

„Sonderbare Liebe“ und „Renaissance“ was kann mit diesen Worten gemeint sein? Was soll dort wiedergeboren werden, etwa eine neue Welt des Sinns, der Sinnhaftigkeit, des Nicht-mehr-Absurden, eine Welt, die geboren im revoltierenden Geist durch eine sonderbare Liebe zusammengehalten wird?
Und Wolfgang Kraus schreibt prognostisch:
„Was aber ebenfalls in der Kunst erkennbar wird, wäre ein Ausweg aus dieser bisherigen dialektischen Automatik wechselseitiger Steigerung nihilistischer Tendenzen. Zu suchen ist nach jenen Künstlern, die an diesem Neuanfang arbeiten. Man kann nicht daran zweifeln, daß es sie gibt, denn man findet ihre unbeirrten Zeichen. Sie stehen insofern im Gegensatz zur Zeit, als sie dem von mehreren Seiten immer weiter vordringenden Nihilismus eine Kraft der Lebensbejahung entgegenrichten“ (108).
Logisch, dass ich mit dieser Meinung konform gehe.

Noch einmal zurück zu Jean-Paul Sartre hinsichtlich eine weitere existentiellen Thematik: der Einsamkeit nämlich.
Richard Sennett wies in einem Gespräch mit Michel Foucault
einmal daraufhin, daß „wir eine Einsamkeit (kennen), die bei den Mächtigen Furcht auslöst. Das ist die Einsamkeit des Träumers, des homme révolté, die Einsamkeit der Rebellion.“ (zit. n. E. Goebel, S.9).

Wenn, wie oben erwähnt, für Sartre die Liebe unmöglich geworden ist und im Ekel mündet, dann entsteht aus der Unmöglichkeit den anderen zu erreichen, in seine Nähe zu kommen, die existentialistische Einsamkeit. Eckart Goebel hat dazu eine Untersuchung vorgelegt. Sie lautet:
„Der engagierte Solitär, Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres. Berlin 2001.“
Goebel stellt der Sartreschen Verneinung menschlicher Liebesmöglichkeiten im Existentialismus die Auffassung eines unmittelbaren Zeitgenossen Sartres gegenüber, nämlich den Psychiater und Arzt und Daseinsanalytiker Ludwig Binswanger, dem wir so interessante Ausführungen und Untersuchungen zum Traumerleben verdanken. Binswanger schreibt, so Goebel: „Im Gegensatz zur Alleinheit oder Isoliertheit ist Einsamkeit nur möglich auf dem Grunde der wahren Zweisamkeit, wie wahre Zweisamkeit nur möglich ist auf dem Grunde der Einsamkeit. Daran vermag auch der Tod nicht zu rütteln...“ (E. Goebel 98)

„Leitbegriff der Arbeit Binswangers an der Überwindung der Trennung ist ‚Liebe’“, so Goebel (107). Von seinem Liebesbegriff kritisiert Binswanger auch vorsichtig Martin Heidegger, dessen Mitsein als Für-Sorge in „Sein und Zeit“ (1927) ihm lieblos erscheint.

Die Einsamkeit eines Camus oder Binswanger ist eine andere, als die Einsamkeit des auf sich selbst zurückgeworfenen Einsamen beim frühen Sartre, der im anderen nur die Hölle erkennen kann.
Anders auch das Einsamkeitsverständnis Martin Heideggers, der in der Einsamkeit einen metaphysischen Grundbegriff erkennen will.
In der „Endlichkeit“ als eine „Grundart unseres Seins“ „vollzieht sich letztlich eine Vereinzelung des Menschen auf sein Dasein“, schreibt Heidegger.
„Vereinzelung - das meint nicht dieses, daß der Mensch sich auf sein schmächtiges und kleines Ich versteift, das sich aufspreizt an diesem oder jenem, was es für die Welt hält. Diese Vereinzelung ist vielmehr jene Vereinsamung, in der jeder Mensch allererst in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge gelangt, zu Welt“ und er fragt weiter: „Was ist diese Einsamkeit , wo der Mensch je wie ein Einziger sein wird?“ (GA 29/30, S.8). Jedenfalls noch einmal die Frage gestellt nach der „sonderbaren Liebe“? was bedeutet dieses Schlüsselwort Camus’ in seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“?

Ist etwa die Liebe und weniger die Kunst die Gegenbewegung gegen Verneinung und Nihilismus?

„Denn stark wie der Tod ist die Liebe“, heißt es im Hohelied des Alten Testaments (8,6). Für Gegenwartsmenschen aktualisiert könnte man übersetzen: „Denn stark wie das Nichts ist die Liebe“.

Für Marsilio Ficino, dem Denker der italienischen Renaissance, ist (in seiner Abhandlung „Über die Liebe“) „die Liebe (...) das unvergängliche verknüpfende Band der Welt, die unbeweglich ruhende Stütze aller ihrer Teile und die unerschütterliche Grundlage des gesamten Triebwerkes (in Sein und Leben)“ (91).

Woher sollte der Motor der (metaphysischen) Revolte, die die Bewegung des Lebens selbst ist, anders seine Kraft beziehen, wenn nicht aus der Liebe und Liebesfähigkeit des Menschen? Aus dem Eros.

Bruderliebe, Schwesterliebe: ist es nicht ein immer wiederkehrender Traum des Menschen: „Alle Menschen werden Brüder“?

Zwar erfährt sich der moderne Mensch an einem Nullpunkt, einem Punkt, den wohl jeder irgendwann einmal auch persönlich durchlaufen mag. Aber insofern er sich gleichzeitig als einer dem Nichts, dem Tode Anheimgegebenen begreift, als ein Sterbender erfährt, erfährt er sich auch als ein noch Lebender und noch Liebender, jedenfalls Liebesfähiger. Man denke an Binswanger im Kontrast zu Sartre existentialistischen Lebensekel.

„... solange die Sonne nur scheint und Diotima, so giebt es keine Nacht für mich. Laß allen Tugenden die Sterbeglocke läuten! Ich höre ja dich, dich, deines Herzens Lied, die Liebe! Und finde unsterblich Leben, indessen alles verlischt und welkt.“ (11,95) Das schreibt Hölderlins Hyperion an Diotima. Und um das zu bekräftigen heißt es später bei Hölderlin:

„Ja! Eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend, wenn er liebt, und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend Lämpchen brennt.“ (11,104)

Abschliessen möchte ich mit einem Gedicht Gertrud von le Forts:

Es lautet:„Tröstet die Finsternis“
„Aber sehr zart und gebrechlich ist jegliches Saitenspiel
Und tief verwundbar sind die empfindlichen Stimmen –
Weh, auf den Strassen der Zeit
Irren verstörte Gesänge,
Umnachtete Lieder fallen den Wanderer an,
Und zersprungene Glocken
Wehklagen wirres Gebet –
Es unholdet in den Wäldern der lieblichen Musen
Von den Gesichtern des Grauns,
Und vom Gespenst der totenblassen Verzweifelung.

O gönnt doch, Freunde, gönnt dieser armen Welt
Doch wieder das Labsal eines lichten Gesanges.
Daß ihr die Finsternis tröstet und selbst mit geretteter Stimme
Die Morgenröte erreicht,
Die zartverheißende, die gesegnete Stunde –
O tröstet die Finsternis zu ihr hin,
Sonst schrecken die Seelen
Ins Mitternächtge zurück,
Die Weisung der frommen Sterne
Wird unerkennbar,
Und am erzürnten Himmel erscheinen wieder
Die Fahnen der wilden Kometen.“

Die Ausstellung ist eröffnet!


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