Under Dekonstruktion
siehe vorläufig Leib und Seele
Oktober 2006 |
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Innerlichkeit - This Mortal Coil |
Montag, 9. Oktober 2006
Wenn die Seele sterblich wäre (Jean Paul)
rabe489, 00:58h
Der Vernichtglaube
Manche Irrtümer erscheinen, wie der Mond, aus der Ferne in milder Gestalt und Dämmerung; tritt man aber nahe vor sie, so zeigen sie wie der Mond vor dem Sternseher, ihre Abgründe und Feuerberge. Tretet näher zum Glauben der Seelensterblich- keit und sehet in seine Grüfte und Krater. Nehmet einmal recht lebhaft an, daß wir alle nur Klangfiguren aus Streusand sind, die ein Ton auf dem zitternden Glase zusam- menbauet und die nachher ein Lüftchen ohne Ton vom Glase wegbläset in den leeren Raum hinein: so lohnet es der Mühe und des Aufwandes von Leben nicht, daß es Völker und Jahrhunderte gibt und gab. Sie werden gebildet und begraben, höher gebildet und wieder verschüttet; aber was nützt es, daß mühsam gepflegt Kraut nach Unkraut, Blume nach Blatt erwächst? Über den unter- gepflügten Völkern liegt der Gottesacker; der Vergangenheit hilft die Gegenwart nichts; und der Gegenwart die Zukunft nicht. Ewig steigen die Wissenschaften, ewig fallen die Köpfe ab worin sie gewesen und höhlen sich unten von allem aus. Verleiht endlich irgendeinem Volke alles Höchste von Wissenschaft, Kunst und Tugendbildung, womit große späte Völker alle frü- hern überbieten und lasset Jahrtausende ihre geistige Ernten und ihren Reichtum in die Menschenmenge von Klangfiguren nieder- legen: in fünfzig Jahren verfliegen die Figuren und die Schätze und nichts ist mehr da als das Dagewesensein. - Der Glanz der Schöpfung und der Geister ist erloschen; denn es gibt keinen Fortschritt mehr; nur Schritte; es bleiben nichts als zerstreuete lose Wesen übrig - höchstens die vergangnen mischt die Asche zueinander -; und alles Höhere muß sich von neuem zusammen- bauen. Gott sieht seit Ewigkeiten nur unaufhörliche Anfänge hinter unaufhörlichen Enden; und seine Sonne wirft ein ewiges falbes welkes Abendrot, das nie untergeht, auf den unabsehlichen Gottesacker, den Leichen nach Leichen ausdehnen. Gott ist ein- sam; er lebt nur unter Sterbenden. Man verlege und verschiebe hier die Unsterblichkeit nicht et- wan auf Wesen über uns. Denn halten die Erden- oder Menschen- geister das Sein nicht aus: so vermögen es die Sonnengeister ebensowenig; denn der Unterschied des Grades, die höhere Stufe geistiger und organischer Kräfte kann keinen Unterschied der Art, wie der zwischen Fortdauer und Nichtsein ist, erzeugen, so wie nicht das Kind, der Cretin sterblich sein kann, der Mann und Sokrates aber unsterblich; - und so muß auch der Erzengel zu- letzt am Fuße des göttlichen Throns seine Flügel abwerfen und vergehen. Wenn nun bei diesem allgemeinen Geistersterb alle Planeten nur als Leichenwagen der Völker um die Sonnen ziehen: so sind alle Zwecke des Lebens und jede Lösung seiner Rätsel durch die ungeheuere Weltensense zerhauen und verstümmelt, und ein Chaos ist viel regelmäßiger als das Geister-All; denn im Chaos herrscht wenigstens ein Kampf von Kräften ohne be- stimmte Abkürzung und Durchschneidung des Erfolges und Ausgleichens, und wenigstens der Gegenstreit erhielte sich als sein eignes Ziel; aber im All der Geistervernichtung, des unauf- hörlichen Aufhörens und Anfangens zum Wiederaufhören ginge jede Regelmäßigkeit in ein altes Chaos über, in Vergleich mit welchem ineinanderstürzende Welten nur chemische Prozesse lieferten. Unser Leben verdankt den dürftigen Schein seiner Länge bloß dem Umstande, daß wir in die gegenwärtige Zeit die vergangne hineinrechnen; aber es kriecht zum spitzen Augenblick ein, wenn man es neben die unermeßliche Zukunft stellt, die mit einem brei- ten Strom auf uns zufließt, von dem aber jeder Tropfe versiegt, der uns berührt; ein Leben zwischen den beiden zusammensto- ßenden Ewigkeit-Meeren, die einander weder vergrößern, noch verkleinern können. Denke dir nun, wir würden anstatt sechzig Jahre bloß sechzig Sekunden alt — und eigentlich werden wir vor dem Angesicht der grenzenlosen Ewigkeit nicht älter, ja nicht einmal so bejahrt - was ist daran gelegen, was ein solches Einminutenwesen eine halbe Minute lang denkt, begehrt, bezweckt, um seine Saat und Ernte wieder auf ein anderes Einminutenwesen zu vererben und fortzupflanzen? Was hat die Aufklärung und das Leuchten eines Sekundenvolks, d. h. einer Staubsammlung von Geigenharz- pulver für Wert, das so lange blitzt und glänzt, als es durch die Flamme des Lebens geblasen wird? - Und kann die tote Neben-Unsterblichkeit von Bibliotheken und Kunstwerken, wel- che sich in dem verfliegenden abbrennenden Hexenmehl auf- hält und widerscheint, ein Leben erwärmen und beseelen, das einem ewigen Erlöschen - oft schon vor seinen durchlebten und zurückgelegten Sekunden - bloßsteht? Verliehe das immerwäh- rende Hineinmischen und Eindrängen der aufblühenden Genera- tion in die abwelkende nicht der letzten einen festen Schein von Bestand und Fortdauer, als ob sie ein Elektrizitätträger der Wissenschaften wäre; sondern fiele jede Generation allzeit mit der verjüngenden unvermengt als ein Ephemerenschwarm ge- storben nieder aus den Abendstrahlen ins Wasser: so würde uns alles Leuchten und Glänzen der Völker nur das verschwindende von Johanniswürmchen, die ihren kleinen Bogen durch die Nacht auf die Erde ziehen, erscheinen. — Und so muß jeder Einzelne mitten in seinem Anlaut und Auffluge zu fremder und eigner Ver- edlung ermatten durch den Gedanken, daß irgendein Wind- stoß einer Wunde auf einmal den Grabstein als Fallgatter auf alle Aufstrebungen niederwerfe. Und gehen wir von den sterbenden Völkern zu sterbenden Einzelwesen über: so schmerzt es die Seele, nur auf einen Augen- blick sich ein Lieben zwischen Vergehenden und Vergehenden ganz auszumalen. Aus dem langen Nichts erwachen ein paar Menschen in ihren Sterbebetten und blicken aus ihnen einander mit Augen voll inniger Liebe an und schließen dann die Augen wieder zu sogleich nach einigen Minuten zum ewigen Nichts; - dies ist nun die unvergängliche Liebe der Menschen unterein- ander, der Eltern, der Kinder, der Gatten, der Freunde. Ohne Unsterblichkeit kann niemand sagen: ich liebte; du kannst nur seufzen und sagen: ich wollte lieben. Das Herz steht einsam auf der Erde; bis es endlich in der Sarah-Wüste unter ihr nicht mehr einsam ist, sondern selber nichts. Es kann nicht einmal betrauern und beweinen; denn der Schatten dazu, der einen Augenblick warm und gefärbt dastand, ist nicht kühl und dunkel geworden, sondern unsichtbar in der weiten unsichtbaren Nacht; auch das bißchen Warm und Rot, was du dein liebendes Herz nennst, wird' vielleicht im Augenblick, wo es noch beweint, auch zur unsicht- baren unfühlbaren Nacht, nicht ein Teil von ihr, (denn sie hat keinen) sondern eine Nacht selber. - Weinender, nimm dem Beweinten'keine Locke und kein Denk- mal ab und richt' ihm keines auf; es wäre das Denkmal von einem Nichts und jede Reliquie wäre lebendiger als der Vergangne, der nicht einmal selber eine mehr sein kann. —Lieben fodert Leben; aber die Geistersterblichkeit vernichtet mit dem fortgesetzten Leben sogar ein anfangendes, und kein Herz bleibt der Liebe lebendig - überall geht durch die Welt und das All nur hölzerne Instrumentalbegleitung, keine lebendige Singmusik - und alles Leben und Herz ist Schein und Maschine und sargt sich schon über der Erde stehend ein. Aber was ist denn die Erde, das leblose All ? Eine schimmernde Antiparos-Höhle, gefüllt mit allen Widerscheinen des Lebens; auf dem Boden der Höhle stehen Wäldchen mit hohen Stämmen von durchsichtigem Kristall und der Pfad schlängelt sich durch kristallenes Gesträuch - und von oben hangen herrliche Frucht- und Blumenschnüre starr und kalt herab und jeder Hügel der Höhle ist von Kristall begraset. Das Kristallisationwasser, wel- ches das Gebilde zusammenhält, ist die Träne eines Augenblicks; ist diese versiegt, so ist das Gebilde zerfallen. 0 tretet schnell aus der Höhle der schimmernden Erstarrung und blickt wieder über die lebendige Breite der grünen Welt hin- über und atmet frischer! - Wie die Leere eines Unglaubens an Unsterblichkeit nicht schmerzlich genug empfunden wird: so wird auch die Fülle des Glaubens daran nicht recht gemessen; und wenn dort der eine Mensch nicht zum offnen Abgrund und Grabe niederschaut, so blickt der andere nicht tief genug in den offnen Himmel hinein; die alltägliche Ebene der Erde, die Mitte des Lebens erhält die Blicke im Schwanken. Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut, sich recht lebhaft als unsterblich zu denken: sonst ge- nössen sie einen ändern Himmel auf Erden als sie haben, nämlich den echten - die Umarmung von lauter Geliebten, die ewig an ihrem Herzen bleiben und wachsen — die leichtere Ertragung der Erdenwunden, die sich wie an Göttern ohne Töten schließen - das frohere Anschauen des Alters und des Todes, als des Abend- rotes und des Mondscheins des nächsten Morgenlichts - Die Gottheit bleibt durch die Ewigkeiten hindurch vor dir stehen, denn dein Auge verweset nicht - das blitzende Sternengezelt ist nicht mehr ein gesticktes Bahrtuch über deinem Geiste, denn er wird nicht begraben, sondern er durchzieht ewig das unermeßliche Sternenlager - die Wissenschaften vermehren sich ihm wie die Sonnen, je weiter er in ihren Himmel dringt - Und alle Mühselig- keiten des Lebens sind die unter dem Ersteigen eines Ätna, um dessen Krater Meere und Italien liegen - Und der alte, von den wiederkäuten Neuigkeiten der Erde übersättigte Mensch geht und stirbt neuen Wundern entgegen - Alles Gute und Kostbare, was ich in fremde Seelen pflanze, findet seinen späten reifenden Himmelstrich und auch meine findet den ihrigen. - Zwar ein matter lauer Nachschein aller dieser Wirkungen des Unsterblichkeit-Glaubens wird gewöhnlich gefühlt und zuge- standen ; aber wie verschwindet er gegen das Feuer der lebendigen Anschauung der Fortdauer! - Was dieses himmlische Feuer halb erstickt, mag ich gar nicht näher betrachten, da es vorzüglich zwei Erbärmlichkeiten des Lebens tun; wovon die erste ist, daß der begrabne Körper die Phantasie so sehr hinabzieht und drückt, daß sie den Geist gar nicht lebendig wieder aus dem Sarge brin- gen kann, sondern unten eingesperrt lässet. Die zweite Erbärm- lichkeit ist die hergeerbte tausendjährige Enge der theologischen An- und Aussichten; durch welche das Bestimmte und Lebendige unserer Sehnsucht sich in Unbestimmtes und doch Einengendes jüdisch-christlicher Lehre verwandelt. Der philosophischen Sy- steme gedenk' ich nicht einmal, vor deren Atem schon das jetzige sichtbare Leben einschrumpft, geschweige das künftige Unsicht- bare. Selig ist, wer wie ich jetzo — nicht wie ich sonst, als ich noch die Ferne der Geisterwelt in umgekehrter Täuschung der Luft- spieglung erblickte und das lebendige erquickende Wasserreich für Wüstensand ansah - sich seine Welt ganz mit der zweiten organisch verbunden und durchdrungen hat: die Wüste des Lebens zeigt ihm über den heißen Sandkörnern des Tags die küh- lenden Sterne größer und blitzender jede Nacht. - - Jean Paul, Selina - oder über die Unsterblichkeit der Seele, Werke, München Wien 1975, Bd. 12, 1105 ff |
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