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Innerlichkeit - This Mortal Coil |
Mittwoch, 29. August 2007
"Die Welt wird leer"
rabe489, 23:13h
Zeit zu erinnern
Symbolik und Wirklichkeit in Einojuhani Rautavaaras Oper "Das Sonnenhaus" - Text zum Programmheft Theater Vorpommern 1994 (Deutsche Erstaufführung) "Alte" und "neue" Zeit; die Zeit an sich - schon am Personenverzeichnis der Oper "Das Sonnenhaus" ist dies als Hauptthema zu erkennen. Aus der Zeitangabe des Librettos "1987 und 1917" ergibt sich ganz folgerichtig, dass alle Personen (mit Ausnahme einer, was aber für das Stück nicht wesentlich ist) zweifach auftreten. Wirklich verdoppelt sind allerdings nur die Hauptfiguren Noora/Eleanor und Riina/Irene. Sie werden von jeweils zwei Darstellerinnen verkörpert, was die direkte Erinnerung an die eigene Vergangenheit ermöglicht. Die Erinnerung an die anderen Figuren -Familienmitglieder, Freunde, Lakaien - geschieht indessen nur indirekt, vermittelt durch das Erscheinen anderer Personen. Und dies wiederum abgestuft: Ist die Ähnlichkeit zwischen dem Vater John und dem Postboten Hermesson unverkennbar und wird von Noora mehrfach erwähnt, bleibt das Wiedererscheinen der Mutter als Haushälterin Turvonen oder des Bruders Victor als junger Dorfbewohner Vikke für die beiden alten Schwestern ohne Bedeutung, entfaltet "erinnernde" Funktion also nur für den Zuschauer. Eine besondere Rolle spielt der Lakai Gregor, der die Ereignisse der Vergangenheit nüchtern berichtet, gleichsam ein Bote sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Zukunft. "Nicht die Zeit verging, sondern sie selbst, sie vergingen gegen deren ungerührt gleichmäßig hingehende Fläche" Bis ins Textdetail, bis in die musikalische Struktur hinein ist "Das Sonnenhaus" eine Oper nicht nur über die Zeit (und die Zeiten), sondern auch über das Erinnern - und über dessen Zwiespältigkeit. Die beiden Hauptfiguren, im wahrsten Wortsinne deplatzierte alte Frauen, werden vor verschiedene Hintergründe gestellt, die die "neue Zeit" abbilden. Und zwar in mehrfacher Variation. Komik fließt ein mit dem Postboten Hermesson und Frau Turvonen, wobei Hermesson - als ein Mann, dessen Belesenheit ihm das einfache Leben eher schwer macht - den beiden alten Frauen seelenverwandt ist. Frau Turvonens Einfalt als weiterer "Hintergrund" wird dadurch verstärkt, dass ausgerechnet sie bei der Generalprobe zu Riccionis Empfang den Gast spielen muß und dabei kläglich versagt. "Moderne", aber auch provinzielle Schlauheit verkörpern Rekku und Vikke ebenso wie der Rechtsanwalt Rissonen, dessen plakative Äußerungen über die neue Zeit als Kontrast zur Lebensweise von Noora und Riina schockierend wirken. Im Gegensatz zur wohlmeinenden Frau Turvonen wirken aber die beiden Jungs und der Rechtsanwalt wirklich zerstörerisch: Rissonen rein geschäftlich, indem er den Verkauf und die Umwidmung von Solgarden in ein Museum immerhin noch mit dem Angebot einer Stadtwohnung sozial verbrämt; Rekku und Vikke sogar direkter durch ihren Streich, den Strom abzuschalten - was (in Anlehnung an die "echten" Schwestern Thiess) den Tod der beiden Frauen physisch mit herbeiführt. Wenn der Hintergrund verschwindet und Noora und Riina ganz bei sich sind, spielt die Zeit als reale Gegenwart keine Rolle. Die musikalisch weit ausgesponnenen Reflexionen über die Zeit, die Welt und den Menschen sind Inseln innerhalb der Oper, die in krassem Gegensatz zum rezitativisch behandelten Handlungsfortlauf stehen. Dabei werden die textlichen Motive, erstaunlich genug, schon von den jungen Eleanor und Irene angespielt, wiederum als "Folie" zu Gregors Erzählung der Familiengeschichte: "Unsere Welt, ganz langsam wird sie leer." Dass der Fortgang der eigenen Geschichte derart passiv betrachtet wird; dass offenbar eine andere Entwicklung nicht einmal denkbar ist (sondern bestenfalls die Rettung durch die in der Erinnerung zu Helden verklärten Holstein und Riccioni erwartet wird), fügt den Figuren und dem Stück eine weitere tragische Perspektive hinzu. Musikalisch wird dies deutlich durch den beinahe minimalistischen Stillstand, der beim ersten - erinnerten - Auftritt der Familie eintritt. Ganz folgerichtig endet die Oper - und mit ihr die Familie - in einer Polonaise, deren langsame Rhythmen einen gespenstischen Totentanz abgeben, zu dem der Lakai Gregor die anderen Figuren pflichtgemäß abmeldet. So wie lebende Personen zur Vergangenheit wurden, werden hier gestorbene Personen zur Gegenwart. Erinnerung und Hoffnung; zu Symbolen geronnen Das Leer-Werden der Welt - ihrer Welt, wie Gregor distanzierend betont -, das Entkleiden, Schwerelos-Werden, das Ausleeren des Kelchs: diese Sprach-Bilder formen einen symbolhaften Zusammenhang, in dessen Mittelpunkt das Erinnern - als Heraufbeschwören von Vergangenheit und Erwartung - steht. Schon das Ausleeren des Kelchs hat eine Doppelbedeutung als (zu ertragendes) Schicksal einerseits, als Heilsversprechen andererseits. Leer, entkleidet, schwerelos: Sehnsucht nach der tragisch verlorenen Harmonie. Eine Harmonie allerdings, die - wir erinnern uns - schon früh brüchig wurde. Aber eben auch: Erwartung des Endes. Das Haus Solgarden (ein "Haus der Sonne", damit mit einem optimistischen Symbol befrachtet) ist, nach Victorias Urteil, "weiß wie eine große Taube". Die weiße Taube - Reinheits- und Friedenssymbol -kehrt in Nooras und Riinas Erinnerungen wieder, zuletzt als Bote mit dem "Ölbaumzweig, des Lebens Botschaft", den vermeintlichen Alessandro Riccioni ankündigend. Hier also wird die Rückkehr des "eigentlichen" Lebens erwartet, ein Zeichen für Versöhnung und Frieden, aber auch wieder: ein Zeichen der Fruchtbarkeit - ein wahrhaftes Lebens-Zeichen für die auf ihrer "Arche" isolierten Frauen. Dieses Bild wirft ein Schlaglicht auf deren Situation: gewollte Einsamkeit und Sehnsucht nach dem Leben. Das rätselhafte Ei Schließlich das Ei, dessen Diebstahl durch Rekku und Vikke - gepaart mit dem sehr realen Streich, den alten Damen den Strom abzustellen - die finale Katastrophe heraufbeschwört. Bereits in den ersten Sätzen der Oper erlangt dieses Ei große Bedeutung: "Das war des Zaren silbernes Osterei, daß der Zar ja selber Papa gegeben hat!", weist Riina ihre Schwester zurecht, als diese mit dem wichtigen Requisit nach einer Ratte wirft. Um diees Ei bleibt ein nicht aufgehobener Widerspruch. Die Erinnerung, nach der es sich um eines der berühmt gewordenen "Zareneier" des Hofjuweliers Fabergé handeln müsste, scheint nämlich zu trügen: In der Rückblende auf die Ankunft der Familie wird das in Solgarden gefundene Ei als Schutzgeist hofiert - demnach kann es eigentlich nicht als Geschenk des Zaren mitgebracht worden sein. Dieser Widerspruch aus realistischer Sicht ist als solcher unbedeutend, aber in anderer Hinsicht sehr aufschlussreich. Zunächst einmal scheint es sich hier um eine sehr typische, erinnernde Verklärung zu handeln. Noch mehr: die Verklärung wird gleichsam vorweggenommen. Das Ei nämlich, sei es nun ein wertvolles Mitbringsel oder ein zufälliger Fund, wird fast unbesehen zum Symbol stilisiert: Als Schutzgeist des Hauses wird ein Gegenstand inthronisiert (und sein Wert steigert sich offenbar mit dem Altern von Noora und Riina noch), dessen Symbolik wiederum auf Fruchtbarkeit und Vollkommenheit verweist, sogar die Auferstehung einschließt: Christus' Ausbrechen aus dem Grab wie aus einem Ei. Die derart umhüllende, wenngleich fragile Hülle deutet aber auch den Wunsch der beiden Schwestern an, sich zu verkriechen vor der Zeit; den kindlich-unschuldigen Zustand der Vergangenheit zu bewahren. Das Geflecht von teils symbolhaften, teils realistischen Sprach-Bildern und korrespondierenden Vorgängen, das die Oper durchzieht, ist ein seltsam schwebendes Gebilde. Die Bewertung der Vorgänge, des Verhaltens insbesondere von Noora und Riina, wird bewusst verweigert. Doch ganz am Ende, zum gespenstischen Abgesang, der Polonaise, setzt das Libretto einen irritierenden Schlußpunkt: "Es ist Zeit zu erinnern", lauten die mehrfach wiederholten Schlussworte des Ensembles. Erinnern - jetzt erst? Einojuhani Rautavaara Rautavaara 2. |
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